Anwesend ist anwesend – auch wenn es besser anders gewesen wäre
Eine Dolmetscherin, zwei Rollen – und ein Streit um Gerechtigkeit
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in einem aktuellen Urteil klargestellt: Ein Dolmetscher, der während der Hauptverhandlung tatsächlich im Saal ist und arbeitet, gilt auch als anwesend – selbst wenn es gute Gründe gäbe, ihn eigentlich abzulehnen. Hintergrund war ein kurioser Fall, bei dem eine Rechtsanwältin zunächst als Pflichtverteidigerin tätig war, dann aber kurzfristig zur Dolmetscherin „umfunktioniert“ wurde – und später wieder als Verteidigerin auftrat.
Die Verteidigung warf dem Gericht vor, damit gegen grundlegende Regeln des Strafprozesses verstoßen zu haben. Der Dolmetscher sei nicht „neutral“ gewesen, sondern befangen – und daher gar nicht richtig „anwesend“. Der BGH sah das ganz anders.
Kein Revisionsgrund, weil: „Anwesend ist nicht gleich abwesend“
Die Argumentation der Verteidigung: Wenn jemand gar nicht als Dolmetscher hätte eingesetzt werden dürfen, dann muss das Verfahren so gewertet werden, als sei kein Dolmetscher da gewesen – und das wäre ein klarer Revisionsgrund. § 338 Nr. 5 StPO lässt keine Hauptverhandlung ohne Dolmetscher zu, wenn der Angeklagte die Sprache nicht versteht.
Der BGH sagt jedoch: Das sei eine zu weit gehende Interpretation. Nur weil jemand unter Umständen hätte abgelehnt werden können, sei er nicht automatisch als „abwesend“ zu werten. Schließlich war die Dolmetscherin physisch anwesend, übersetzte tatsächlich und wurde nicht durch einen Antrag abgelehnt. Damit habe sie formal ihre Funktion erfüllt.
Ein weiteres Argument der Richter: Das Strafrecht kennt bereits spezielle Revisionsgründe für Richter, die ausgeschlossen sind – z. B. durch § 338 Nr. 2 StPO. Wenn allein die Befangenheit schon ausreichen würde, jemanden als „abwesend“ zu bewerten, wäre diese Regel überflüssig. Es brauche klare Trennlinien.
Warum das Urteil für die Praxis wichtig ist
Der BGH schafft hier Rechtssicherheit – zumindest auf dem Papier. In der Realität bleibt aber ein unangenehmer Beigeschmack: Muss man wirklich dulden, dass eine Person gleichzeitig Verteidigerin eines Mitangeklagten undDolmetscherin in derselben Sache ist – und das als unproblematisch gilt, solange niemand rechtzeitig protestiert?
Es zeigt sich einmal mehr: Wer in einem Strafprozess nichts sagt, hat später schlechte Karten. Formale Fehler oder mögliche Befangenheiten sind nur dann angreifbar, wenn man sie im richtigen Moment thematisiert – und vor allem: beantragt, dass die betreffende Person abgelehnt wird.
Nur weil jemand da ist, heißt das nicht, dass er da sein sollte
Was der BGH hier liefert, ist juristisch sauber – aber menschlich schwer vermittelbar. Dass eine Verteidigerin plötzlich zur Dolmetscherin gemacht wird und dann wieder zurückwechselt, mag formal möglich sein, wirkt aber wie Improvisation auf offener Bühne. Und dass ein Revisionsgrund davon abhängt, ob jemand „wirklich abwesend“ ist oder nur „besser nicht da gewesen wäre“, ist ein Paradebeispiel dafür, wie Recht und Gerechtigkeit nicht immer Hand in Hand gehen. In der Praxis heißt das: Wer schweigt, verliert. Fair fühlt sich das nicht immer an.